Nach ein paar Stunden auf der Fähre sitze ich im Hafen von Picton in den Bus, der einen zum Terminal bringt. In Neuseeland – am anderen Ende der Welt treffe ich meinen kleinen Bruder wieder – nach 5 Monaten. Und das ist wirklich ein tolles Gefühl: Geschwisterliebe.
Ein seltsames, unbekanntes Gefühl macht sich in meiner Magengegend breit. Ich bin aufgeregt, ich fühle mich als stünde ich hinter dem Vorhang auf einer großen Bühne und müsste gleich das Stück meines Lebens präsentieren. Dabei werde ich einfach nur meinen Bruder wieder in die Arme nehmen. Endlich. Und ich kann mir einfach nicht vorstellen, wie sich das anfühlen wird. Wie er aussehen wird. Ob er gewachsen ist? Quatsch – er ist 19! Da wächst man nicht mehr.
Ist er wohl gewachsen? Wie hat er sich verändert?
Es ist eigentlich eine kurze Fahrt durch den Hafen von Picton. Auf der Fähre hatte ich genügend Zeit mich auf diesen Moment zu freuen. Und doch ist alles anders als gedacht. Weit weg sind die Momente als mein Bruder und ich uns vorher über die Reise gestritten haben: Ich wollte einen genauen Plan, wo wir uns treffen würden und wie lange. Er war gefangen im „Endlich-frei-sein-und-machen-was-man-will“. – Unfähig Pläne zu machen, die über morgen hinaus gehen. An übermorgen oder in zwei Monaten nicht zu denken. Nun fährt der Bus auf den Kompromiss zu, den wir dann doch noch zustande bekommen haben: Treffen in Picton, ein paar Tage in Kaikoura und dann noch ein paar Tage in Wellington.
Jeder Streit ist vergessen
Auf einmal ist es, als hätte es den Streit nie gegeben. Ich male mir aus, was er zu erzählen haben wird. Ob er erwachsen geworden ist. Obwohl – das kann ich mir nicht vorstellen. Aber selbstständig doch bestimmt? Und älter? Anders? Ich bin zehn Jahre älter als Ismael. Ich kann mich noch genau daran erinnern, wie ich ihn als „große“ Schwester im Krankenhaus auf dem Arm gehalten habe. Und nun ist es als würde ich ihn ein zweites Mal geschenkt bekommen. Natürlich ist da wieder der Kloß im Hals. Aber ich glaube er meint es diesmal gut. – Voller Vorfreude. Ich recke mich und suche den Gehweg vor dem Fährgebäude ab. Steht er da? Gibt es wohl seine Grübchen noch? Ob er den Wirbel im Haar, oben an der Stirn noch hat? Obwohl – hat er den vielleicht schon länger nicht mehr? Keine Ahnung. Das muss ich prüfen.
Der Bus wird langsamer, tastet sich an den Gehweg heran und auf einmal sehe ich ihn: Ismael. Mit grauer Kappe auf. Vor ihm ein riesiger grauer Rucksack. Da steht er und wartet, als hätte er nie etwas anderes gemacht. Mir kommen die Tränen. Ich wollte doch nicht weinen. Aber erst jetzt wird mir klar wie sehr ich ihn vermisst habe. Und wie gut es ist, dass wir uns genau jetzt wiedersehen. Am anderen Ende der Welt. Mitten in der Passion, die wir als Geschwister teilen: Reisen, Orte erkunden, sein.
Ein Moment von purem Glück
Es gibt wenige Momente im Leben, die ich als pur, rein und komplett voller Glück beschreiben würde. Aber das ist definitiv einer davon. Er lächelt als sich unsere Blicke kreuzen. Wie immer. Das muss so. Und da ist noch etwas: Er sieht erleichtert aus. Sind wir es beide? Ist es am Ende noch viel schöner und leichter, als wir es uns vorstellen konnten? Ich glaube ja! Wir fallen uns in die Arme. Die Zeit bleibt für einen kurzen Augenblick stehen. Zumindest denken wir das. Für immer wissen wir was wir aneinander haben. – Als Geschwister. Und ich werde noch in dieser einen kurzen Woche lernen, dass mein Bruder viel mehr Facetten hat, als ich sie mir vorher hätte erträumen können. Er redet auf einmal wie ein Wasserfall, fasst Gedanken in Worte, spricht über das was er in Monaten mit wenig Geld gelernt hat und zeigt was reisen aus einem Menschen herausholen kann: Offenheit, Bodenständigkeit, Naturverbundenheit, Interesse, Ruhe, Entspannung, Dankbarkeit, Wertschätzung, Liebe, Passion und alles wofür die Worte fehlen.
Ich schaue ihn an, als hätte ich ihn gerade erst geschenkt bekommen und bin dankbar: Das ist Liebe innerhalb der Familie! Sie hat mir eine ganz neue Facette gezeigt: Tief und ehrlich.
Fotos: Raphael Pi Permantier